Einleitung zur
Ausstellung

von Theresa Beyer
& Dara Shikoh

Was macht ein Punschabsänger im Tulpenfeld? Ist Mozarts Türkischer Marsch ein guter Rap-Beat? Für was stehen Opernhäuser in Algier, Beirut und Muscat? Und wie imaginieren russische Nationalist*innen Zentralasien? Diese Fragen schleudern uns die Musikvideos der virtuellen Ausstellung «DisOrient» entgegen. Sie wurden in der Türkei, im Libanon, in Saudi-Arabien, im Iran, in Tadschikistan und Indien produziert und zeigen, was Musiker*innen und Videokünstler*innen aus dem Nahen und Mittleren Osten eindimensionalen orientalistischen Vorstellungen entgegensetzen. 

Wie Edward Said sehen wir «Orientalismus» u.a. als eine westliche Konstruktion, «den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken» (Said 1978/2009). Auch in der westlichen Musik war (und ist) der «Orient» vor allem eine Projektionsfläche für das exotisierte, essentialisierte und enthistorisierte Andere, das immer wieder als radikaler Gegensatz zum Westen herhalten musste und muss. Ein Beispiel ist Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» von 1782, das laut der Musik- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Binas-Preisendörfer ein «Sammelbecken für alles Exotische» (Binas-Preisendörfer 2012) ist. Auch Musikvideos, die als audiovisuelle Kunstwerke gewissermaßen mit der Oper verwandt sind, greifen auf den «Orient» zurück – als diffuse Metapher für das «Fremde an sich», das «Martialische» und «Verruchte» (siehe Interview mit Marcus Henrik Wyrwich). Doch die gute Nachricht ist: Das globale Medium des Musikvideos hat genauso die Kraft, all das auch wieder über den Haufen zu werfen.

Bei Norient ist, wie der Name schon sagt, die Absage an Orientalismus Programm. Das in Bern und Berlin beheimatete Musikrecherchenetzwerk wurde vom Mannheimer Sommer 2020 mit einer multimedialen Ausstellung beauftragt, die wegen der Corona-Pandemie vom Bunker des Nationaltheaters ins Internet verlagert wurde. 

Bis auf die Videoinstallation von Joe Namy, die exklusiv für Disorient erstellt wurde, sind alle Musikvideos auf YouTube zu finden. Beim Einbinden in die Ausstellung haben wir uns entschlossen, sie in ihrem natürlichen medialen Lebensraum zu belassen. Zwar muss der oder die Besucher*in in wenigen Fällen kurze Werbeblöcke in Kauf nehmen – dafür bitten wir um Verständnis -, doch jeder Klick wird gerechnet und bringt die Künstler*innen im harten Kampf um Online-Sichtbarkeit nach vorne. YouTube ist gerade in Zeiten von Corona-bedingten Auftrittsbeschränkungen eine wichtige Einnahmequelle für die Musiker*innen und Videokünstler*innen.

Für die Kuration haben sechs internationale Kurator*innen aus dem Norient-Netzwerk zusammengearbeitet. Sie sind zwischen Popkultur, visueller Kunst und Musik aktiv und haben allein schon biografiebedingt unterschiedliche transkulturelle Perspektiven auf Orientalismus und dessen Gegennarrativen: Der Kulturanthropologe Daniyal Ahmed lebt in Karachi und hat in Heidelberg studiert. Basak Senova, Kuratorin aus Istanbul, hat aktuell eine Gastprofessur in Wien inne. Der Kurator Neil van der Linden aus Amsterdam ist auf den Kulturaustausch mit den Golfstaaten spezialisiert. Der Künstler und Aktivist Georgy Mamedow blickt aus Bischkek (Kirgisistan) auf das Thema. Der Künstler Ali Sayah kommt aus Teheran und lebt in Berlin, während die Berliner Kuratorin Berit Schuck lange in Alexandria aktiv war.

Die Ausstellung problematisiert Orientalismus aber nicht nur in den ausgewählten Musikvideos, sondern auf allen Ebenen: Für DisOrient hat die Soundkünstlerin Rehab Hazgui aus den Midi-Melodien des Computerspiels «Prince of Persia» einen surrealen Soundtrack komponiert, mit dem sie sich von der orientalistischen Idee distanziert, ein ganzes musikalisches Universum anhand von nur vier Tönen repräsentieren zu können.

Auch die Designer*innen von Rugwind haben lange diskutiert, wie sie nostalgischen Orientbildern aus dem Weg gehen können. Die Lösung lag in der Reduktion: Sie verwenden nur Bildmaterial aus den Musikvideos selbst und lassen es aus abstrakten Soundkurven hervorquellen.

Trotz der multilokalen und multiperspektivischen Arbeitsmethode von Norient hielt das Projekt dennoch einige Fallen bereit: Ist die Ausgangsthese, dass sich Musiker*innen und Künstler*innen im nahen und mittleren Osten am Orientalismus abarbeiten, nicht selbst orientalistisch, weil damit ja der «Orient» als Konstrukt des Westens mit Bedeutung aufgeladen wird? Lenkt der Auftrag, Orientalismus-kritische Musikvideos zu recherchieren, nicht die Suche implizit in die Richtung traditionell gefärbter und lokal verortbarer Klänge? Und: Lässt sich der Macht der Bilder und Klänge überhaupt entkommen? Reproduzieren und bestätigen Musikvideos, die Orient-Klischees dekonstruieren oder parodieren wollen, diese nicht vor allem erst einmal?

Wenn man vermeiden will, dass diese Fallen zuschnappen, dann ist es mit einer simplen Playlist nicht getan. Kuratieren heißt in diesem Projekt also auch: kontextualisieren, differenzieren, Entscheidungen transparent machen und Subjektivität zulassen. Genau das tut das Team hinter dieser Ausstellung: in den Musikvideo-Shortlists, in den Videostatements, in Hintergrundtexten und im weiterführendem Material. 

Dabei hat jede*r Autor*in, jede*r Kurator*in für sich definiert, welche künstlerische Strategien als Orientalismus-Kritik angelegt sind oder als diese gelesen werden können. Die sieben Musikvideos in der Endauswahl und die 23 weiteren Clips in den Shortlists sind Plädoyers dafür, die vermeintlich statischen Pole Ost vs. West aufzulösen. Sie parodieren den Vorwurf der Rückständigkeit oder befreien sich von der Deutungshoheit des Westens. Sie entlarven orientalische Stereotype als gehaltlos oder überspitzen sie zu subversivem Kitsch. Oder sie drehen den Spieß einfach um, indem sie den Westen orientalisieren. 

Und damit stehen wir plötzlich in einem Spiegelkabinett der Projektionen: Die starken, differenzierten und humorvollen künstlerischen Statements und die verschiedenen Deutungsperspektiven halten uns immer wieder den Spiegel vor, sie machen schwindelig und verzerren unsere Selbstbilder, bis wir uns über uns selbst wundern. Und das ist das Ziel dieser Ausstellung: Denn da, wo man die Orientierung verliert, wird der Blick geschärft.

In diesem Sinne wünschen wir viel Spaß beim Surfen durch die Ausstellung!

Referenzen:
• Said, Edward. 2010 [1978]. Orientalism. New York: Pantheon Books. (dt. Übersetzung: Orientalismus. Frankfurt a. M.: S. Fischer.) 
•Binas-Preisendörfer, Susanne (Hrsg.); Unseld, Melanie (Hrsg.): Transkulturalität und Musikvermittlung. Möglichkeiten und Herausforderungen in Forschung, Kulturpolitik und musikpädagogischer Praxis. Frankfurt a.M.: Peter Lang (2012) S. 21-41.